Samstag, 18. Juli 2009

Kassandra und ein Wahlkampf








Der Polizei-Chef von Daikundi und seine Leute (Bild) sind, wie im vorherigen Kapitel beschrieben nicht Opfer der Taliban, sondern Gejagte der Verhältnisse, für die
Karsai-Regierung und die internationalen Akteure zuständig sind bzw. die diese
nicht aktiv genug verhindern. Über die Lage einen Monat vor der Wahl siehe folgenden
Beitrag im Tagesspiegel.

Eine Prognose lässt sich schon jetzt treffen. Viele Afghanen
werden am 20.August nicht zur Wahl gehen, wenn der
Nachfolger von Präsident Hamid Karsai gesucht wird und
in allen Regionen zugleich neue Provinzräte zur
Abstimmung stehen.
Wie in Deutschland ist die Wahlmüdigkeit am Hindukusch
gross, die zarte Pflanze Demokratie durch fehlende
Sicherheit und ein Klima verbreiteter Korruption geprägt.
„Karsai und seine Regierung dienen nicht dem Volk
sondern arbeiten allein für ihren eigenen Vorteil“, schimpft
ein Taxifahrer, „schauen sie sich die Schlaglöcher auf der
Strasse an. Jetzt zahlen wir Steuern. Aber warum fliesst
dieses Geld nicht in eine bessere Infrastruktur ?“.
Taxifahrer sind ein Gradmesser für Volkes Stimme.
Mit Blick auf das Wahlergebnis ergibt sich gleichwohl
kein klares Meinungsbild gut einen Monat vor der Wahl.
Und obwohl Wähler zum Teil heftige Kritik an
Präsident Karsai äußern finden viele, er sei der einzige
Garant für gute Beziehungen zur internationalen
Gemeinschaft um die nötigen Hilfsgelder nach
Afghanistan zu holen.
Die Kritik von US-Regierung und Europäern an Karsai
wird in den vergangenen Monaten merklich hinter den
Kulissen geführt. Nicht mehr öffentlich, wie noch zu
Antritt der Obama-Regierung. Fast scheint es, als hätten
sich die Geberländer, mehr schlecht als recht, auf Karsais
Widerwahl festgelegt.
Dieser hat vor Beginn der heissen Wahlkampfphase
zahlreiche Vereinbarungen mit einflussreichen warlords,
Gouverneuren, Parteichefs und Stammesältesten
geschlosssen und diesen im Gegenzug Teilhabe an der
Macht versprochen bei erfolgreicher Wiederwahl.
Ganz sicher scheint sich Karsai seiner Sache dennoch
nicht zu sein. Glaubt man EU-Beobachtern, dann
bestechen sowohl Karsai wie auch sein vermutlich grösster
Rivale, der ehemalige Aussenminister Abdullah
Abdullah aud dem Lager der Tadjiken Stammesälteste
mit Geldsummen im vier- bis fünfstelligen Bereich um
sich so ihre Gunst zu erkaufen. Die Wahlempfehlung
dieser Ältesten wiederum dürfte - gerade in ländlichen
Gegenden mit geringer Bildung - von den meisten
Stammesangehörigen als verbindlich interpretiert werden.
“Ansonsten ist die Ausgangslage ganz anders als
vor fünf Jahren„ , meint Grant Kippen,
US-Amerikaner und Mitglied der unabhänigen
Beschwerdekommission ECC. Aufgrund der angespannten
Sicherheitslage mit Kämpfen in vielen Provinzen
sei vielerorts unklar, ob die Bevölkerung tatsächlich
wählen könne. Zwar hat die staatliche Wahlkommission
jedem der über 40 Präsidentschaftskandidaten bis zu 20
body guards zum Schutz in Aussicht gestellt.
Tausende von Kandidaten für die Provinzräte aber müssen
ihre Sicherheit selbst organisieren. „Ohne Schutz bin ich
ein einfaches Ziel für die Taliban“, sagt Fazlullah,
Kandidat in der umkämpften Provinz Helmand.
In Wardak, der mittlerweile talibanisierten Nachbarprovinz
von Kabul, verzichten viele Kandidaten auf die übliche
Wahlkampftour mit dem VW-Bus/Mini-Bus. Selbst in
Kunduz, wo die deutschen Truppen stehen, könne
von einer freien Wahl nicht die Rede sein, meint ein
afghanischer Korrespondent von ‚Voice of America’.
„An der Oberfläche scheint alles ruhig in Kunduz. Aber
viele Menschen haben Angst, aus dem Haus zu gehen.“
In Mazar, wo das Zentrallager von Bundeswehr und NATO
für den Norden steht, wurden vergangene Woche ein Mitglied
der afghanischen Wahlkommission samt Bewacher
erschossen. Die Präsidentschaftskandidaten halten sich
vor diesem Hintergrund bisher mit Reisen in die Provinzen
zurück. Das Stadt-Land-Gefälle könnte grösser nicht sein.
Ähnliche Sorgen plagen die unabhängigen Wahlbeobachter,
deren Präsenz für einen fairen Urnengang garantieren soll.
„Unser Ziel ist es, in 75 Prozent der Distrikte präsent zu
sein“, sagt eine Sprecherin der unabhängigen
Beobachterorganisation FEFA, “aber zur Zeit verfügen
wir landesweit nur über einen Bruchteil des Personals,
das wir brauchen.“
Die Hoffnung, das US- und NATO-Militär die Sicherheit
bis zum Wahltermin noch verbessern, hat man bei FEFA
längst aufgegeben. „Die Verstärkung durch ausländisches
Militär kommt viel zu spät, um für ein sichereres
Umfeld zu sorgen“, meint Jandad Spinghar, FEFA-
Geschäftsführer. “Wo US- oder NATO-Militär auftaucht,
sichern sie das Terrain manchmal nur für Stunden oder
Tage. Dann sind sie wieder weg, aber die Bevölkerung
ist den Aufständischen umso stärker ausgesetzt.“
Führende Taliban haben zum Boykott der Wahl aufgerufen
Sie schüchtern die Bevölkerung ein, nicht an einer in ihren
Augen fremdbestimmten Wahl teilzunehmen.
Zugleich haben Vereinte Nationen und Karsai-Regierung
Taliban und ihre Anhänger zur Teilnahme an der Wahl
eingeladen. Was wie ein Paradox klingt ist in Wahrheit
der Versuch, möglichst wenig Gewalt im Vorfeld des
Urnengangs zu provozieren. Der erste Monat
Wahlkampf verlief vergleichsweise unblutig. Eine
Garantie für die kommenden vier Wochen ist das nicht.
Auf dem Papier sind dies die ersten Wahlen, die die
afghanischen Behörden selbst organisieren. Bei den letzten
Urnengängen hatten noch die Vereinten Nationen den Hut
auf. Allerdings merken internationale Beobachter an, dies
sei nicht mehr als „ein gehöriges Feigenblatt“. Tatsächlich,
so heisst es, sei die afghanische Wahlkommission
vollkommen überfordert und unverändert auf logistische
Hilfe der Internationalen angewiesen, u.a. um Wahlurnen
und –material in die entfernten Provinzen zu befördern.
Die Geberländer sind es auch, die mit über 200 Millionen
Dollar das Gros des Budgets für die Wahl stellen.
„Wer der Zahlmeister ist, der hat auch die Macht“,
besagt ein afghanisches Sprichwort.
Der Vorsitzende der afghanischen Wahlkommission,
Azizullah Lodin, gilt zudem als ein ausgemachter
Parteigänger von Präsident Karsai. Er und seine Behörde
werden für zahlreiche Manipulationen in den vergangenen
Wochen verantwortlich gemacht.
So sind in einigen der paschtunischen Distrikte
dreimal soviel weibliche Wähler registriert wie
tatsächlich dort leben. FEFA klagt, Präsident Karsai
nutze ungeniert staatliche Dienste und den Apparat
von Provinzregierungen für seine Kampagne, während
er dies allen anderen Kandidaten per Dekret untersagt
habe.
Karsais Poster sind omnipräsent an Hauswänden
landesweit. Im Fernsehen hat er ein klares Übergewicht bei
der Sendezeit. Wie vor 5 Jahren ist es ein Rennen von
Ungleichen.
Zwielichtig ist auch die Rolle der unabhängigen
Beschwerdekommission ECC, die aus Afghanen wie
Ausländern zusammengesetzt ist. “Wir haben im Vorfeld
56 Kandidaten für die Provinzwahl ausgeschlossen und
zwei Bewerber unter den Präsidentschaftskandidaten“,
sagt Grant Kippen stolz.
Faktisch aber bleibt seine Organisation ein zahnloser Tiger,
denn jene einflussreichen Kandidaten, die unverändert
über bewaffnete Milizen verfügen und wegen
Menschenrechtsverstössen eigentlich nicht teilnehmen
dürften, bleiben unbelangt.
So tragen der Westen und die internationale Gemeinschaft
Mitschuld an einem System, das diejenigen hoffähig macht
und amnestiert, die tatsächlich Blut an den Händen haben.
Und so erklärt sich auch ein grosser Teil der
Politikmüdigkeit und enttäuschten Hoffnungen der
Bevölkerung über die neue Demokratie.

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